Victoria – ein Patrouillenboot der Kaiserzeit

Die Schiffsfunde von Oberstimm

In Oberstimm in der Nähe von Ingolstadt entstand Mitte des 1. Jhd. n. Chr. ein römisches Militärlager. Aufgrund der Lage des Lagers an der Donau und somit dem „nassen Limes“ waren hier auch römische Patrouillenboote zur Sicherung der Donau stationiert. Ab 1984 wurden Teile des Kastellgeländes archäologisch untersucht, wobei zwei Wracks gefunden wurden. 1986 im Römisch-Germanischen Zentralmuseum (RGZM, heute LEIZA) nass gelagert und von Olaf Höckmann erstmals archöologisch untersucht, wurden sie erst 1994 vollständig geborgen. Seit 2006 sind sie im „kelten römer museum maching“ ausgestellt. Die Wracks von Oberstimm, die ungefähr 100 n. Chr. gesunken sind, konnten als schnelle Patrouillenboote sowohl gerudert als auch gesegelt werden. Wrack 1 hat eine Länge von 15,2m und eine maximale Breite von 2m, während Wrack 2 bei einer maximalen Breite von 2,4m 14,6m lnag ist. Trotz bestehender Ähnlichkeiten zu vorhandenen Schiffswracks ist eine genaue Zuordnung der Wracks zu bestehenden Schiffstypen nicht möglich (gewesen), sodass sie als eigener Typ, benannt nach dem Fundort Oberstimm, erfasst wurden.

Grabungsplan Wrack 1 und 2 von Ronald Bockius

Die beiden Wracks im „kelten römer museum manching“

In situ Bild der beiden Schiffswracks in Oberstimm

Was lässt sich aus dem Befund zur Bauweise der Oberstimm-Wracks sagen? Es handelt sich bei beiden Fahrzeugen um rundspantige Plankenfahrzeuge mit Kielschweinen, die dem mediterranen Schiffbau angehören. So legt das Baumuster eine „shell-first“ Konstruktion mit Mallen nahe. In beiden Wracks folgt gewöhnlich auf ein gebautes Spant aus einer Bodenwrange mit losen Seitenstücken ein Paar Halbspanten. Auch wenn diese Konstruktionsweise unser modernes Ordnungsempfinden bisweilen zu stören scheint, darf man sich nicht täuschen lassen: So sind die Schiffe nicht „auf gut Glück“ zusammengebaut worden, ergab sich die Form des Schiffes nicht durch den Bau selbst. In beiden Wracks finden sich Hinweise auf Konstruktionshilfen, von exakt platzierten Holznägeln bis hin zu Messinstrumenten, die beim Bau verwendet werden mussten. Vielmehr wird deutlich, dass beim Schiffbau ein gewisser Pragmatismus an den Tag gelegt wurde, vorhandene Holzstücke im Bereich der Spanten zu verwenden, welche gerade gut passten – dies aber immer ohne die Stabilität des Schiffes zu gefährden.

Nachbau des Schiffes

Rekonstruktionszeichnung zu Wrack 1 mit Segel von Dr. Ronald Bockius

Im Zuge der sich 2009  jährenden Varusschlacht und der damit verbundenen Ausstellung „Imperium Konflikt Mythos – 2000 Jahre Varusschlacht“ sollte auch ein römisches Kriegsschiff rekonstruiert werden. Die Wahl fiel hierbei auf einen Nachbau des Wracks Oberstimm 1, welches zwar circa um 100 n. Chr. sank, aber als Schiffstyp vermutlich schon zur Zeit der Varusschlacht im Einsatz war. Der Nachbau erfolgte in Kooperation mit dem Lehrstuhl Alte Geschichte der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Christoph Schäfer, dem  Landschaftsverband Westfalen Lippe sowie Bootsbauern der Werft von Jugend in Arbeit Hamburg e. V.

Nach der Kiellegung am 02.04.2007 bauten ein Jahr lang insgesamt 20 Studierende, zwei Bootsbauer und drei Auszubildende an dem Nachbau. Wie der Originalbefund wurde die Rekonstruktion in der sogenannten „shell-first“ oder Mallenbauweise gebaut. Bei dieser werden mithilfe von Mallen, welche als Schablone des Rumpfkörpers dient, zunächst die Außenplanken provisorisch an den Mallen befestigt. Die Mallen bestimmen daher die Form des späteren Schiffes. Erst im Anschluss werden die Spanten eingesetzt, die das permanente Schiffsskelett darstellen. Dank dieser Arbeitstechnik, wie sie im heutigen Bootsbau immernoch angewandt wird, konnten in der Antike ganze Flotten binnen kürzester Zeit entstehen, da die Mallen nach Fertigstellung eines Spantgerüstes sofort wieder auf den Kiel eines nachfolgenden Schiffes des selben Typs aufgesetzt werden konnten, obgleich sich das erste Schiff noch mitten im Innenausbau befand. 

Bild des Kiels mit Mallen als provisorisches Skelett. Zur Fixierung der Mallen sind stabilisierende Schwertlatten zum sogenannten Esel an der Decke angebracht

Zur Verbindung der Planken untereinander und mit den Spanten kam bei den Oberstimmer Schiffen wie auch bei der Rekonstruktion die sogenannte Nut-und-Feder Bauweise zum Einsatz. Bei dieser werden in die Planken in kurzem Abstand Taschen gefräst, in welche eine falsche Feder aus Holz gesteckt wird. Auf beiden Planken wird dann durch die Feder ein Holznagel getrieben, welcher die beiden Planken und auch die Spanten mit den Planken miteinander verbindet. Im Schiff wurden 600 Federn verbaut und komplementär hierzu doppelt soviele Holznägel.

Bild von Nut und Feder an der Beplankung (hier Bissula/Laurons II)

Sicht auf die Außenbeplankung mit noch nicht eingekürzten, in die Planken getriebenen Holznägeln (hier Bissula/Laurons II)

Nach Fertigstellung des Schiffsrumpfes ging es an den Innenausbau des Schiffes. Hier wurden Duchten, die Sitzbänke für die Ruderer, Weger, also die Innenverkleidung des Schiffes, Kielschwein und Bodenbretter eingesetzt. Insgesamt sind 10 Ruderduchten mit einer Dicke von 5 cm als Sitzmöglichkeit für die Besatzung eingelassen worden. Den Bau des Schiffskörpers abeschließend, wurde schließlich der Schiffsrumpf durch Kalfatern und Wurzelteer abgedichtet.  Damit war der Bau freilich noch nicht beendet, fehlte ja noch der gesamte Antrieb! Hierfür wurde ein Mast für das rahbetakelte Segel sowie insgesamt zwanzig Riemen für den Ruderantrieb gebaut. Bei letzteren handelte es sich zwingend um eine freie Interpretation, da keine Riemen im Befund überliefert sind. Den Abschluß der Rekonstruktion bildete den Bau der Ziersteven an Bug und Heck, die wiederum an Reliefdarstellungen der Trajanssäule angelehnt wurden. Darum besteht die Bugzier aus einer Schnecke ähnlich eines Geigenhalses, und im Heck ziert eine aufgehende Magnolienknospe den Stand des Schiffsführers. 

Oberstimmmodell in der SVA

Auch für den Nachbau vom Typ Oberstimm 1 wurde in der Schiffbauversuchsanstalt Potsdam gGmbH eine Versuchsreihe zur Ermittlung der Widerstandswerte durchgeführt. Das im Maßstab 1:5 gebaute Rumpfmodell wurde von der Werft „Jugend in Arbeit“ unter dem Geschäftsführer Rudolf Ehrenthal angefertigt. Bei insgesamt vier Schleppversuchen war das Modell mit einem Ballastgewicht so ausgetrimmt, dass das Gesamtgewicht der berechneten Verdrängung mit voller Besatzung entsprach. Der Kraftangriffspunkt für den Schleppwagen befand sich ungefährt im Längenschwerpunkt des Modells und auf Höhe der Wasserlinie. Rainer Grabert, Bereichsleiter der Abteilung Propulsion und Widerstand der SVA, leitete die Schleppversuche, bei denen Widerstandskraft, Tauchung vorne und Tauchung hinten gemessen wurden.  

Durch die Schleppversuche ergaben sich mehrere interessante Erkenntnisse. Damit ein Militärschiff vom Typ Oberstimm dauerhaft 4kn Fahrt machen kann, benötigt man demnach 13 Ruderer. Für eine dauerhafte Reisegeschwindigkeit von 6kn wären dagegen schon 44 Ruderer notwendig. Angesichts der Tatsache, dass nur 20 Ruderplätze vorhanden sind, wird eine Geschwindigkeit von dauerhaft 6kn oder mehr auszuschließen sein. Die Reisegeschwindigkeit läge demnach maximal bei 4 und 5kn. Nach diesen Berechnungen ergibt sich, dass sich ein Militärschiff vom Typ Oberstimm vor allem im Geschwindigkeitsbereich von 4kn problemlos und bequem mit knapp 2/3 Sollstärke der Besatzung rudern lässt, ohne die Mannschaft übermäßig zu strapazieren. Wie bei der Lusoria kann angesichts der absoluten Widerstandswerte allerdings eine steile Zunahme der Leistungskurve konstatiert werden. Möchte man die Fahrt von 4 auf 5kn erhöhen, so muss die Mannschaft ihre Leistung annähernd verdoppeln. Die im Modellversuch gewonnenen Erkenntnisse galt es nun mit dem 1:1-Nachbau zu validieren. 

Testfahrten

Vom 09.-19. April 2008 fanden die ersten wissenschaftlichen Testfahrten des Nachbaus vom Typ Oberstimm 1 von Hamburger Studierenden auf dem Domsee bei Ratzeburg statt. Änhlich wie bei den Rekonstruktionen des Typs Lusoria war auch für die Untersuchung von Oberstimm 1 die Leistungsfähigkeit des Schiffes unter Riemen und Segeln von elementarer Bedeutung. Hierfür wurde das Schiff zunächst ausschließlich gerudert, in den darauffolgenden Tagen erfolgten dann auch Segelversuche. Eine besondere Herausforderung bestand in den ersten Tagen erwartbarerweise in der Einübung des richtigen Umgangs der Riemen und der Koordination der Schiffsbesatzung. Beispielsweise wurde am zweiten Tag der Schwerpunkt der Riemen so verlagert, dass diese für alle Testteilnehmenden erheblich leichter zu handhaben waren. Ein besonderes Testelement war die Wegnahme des Steuerruders und eine anschließende kurze Fahrt, bei der ausschließlich die Riemen als Steuerung fungierten. Dies erleichterte zwar erheblich das Rudern, führte aber andererseits dazu, dass von Kursstabilität nunmehr keine Rede mehr sein konnte. 

Begleitet wurden die Tests von Dr. Moritz Günther und Dr. Chris Wrawzyn von der Universität Hamburg, die mithilfe eines auf dem NX-2 System basierenden Messsystems verschiedene relevante Fahrdaten erhebten und verarbeiteten.

Ergebnisse der Tests

Im Rahmen von Testfahrten mit wechselnden Mannschaften auf dem Ratzeburger See konnten über 18 Tage hinweg die Eigenschaften des Militärschiffs untersucht werden. Es ware festzustellen, dass unter Riemen deutlich an Kraft gespart werden konnte, wenn die Ruderer im Gleichtakt arbeiteten. Die beesten Ergebnisse wurden mit 25-28 Ruderschlägen pro Minute erreicht. Eine bequeme Reisegeschwindigkeit, die für eine längere Zeit gehalten werden kann, liegt um vier Knoten bei sieben besetzten Duchten, d.h. 14 Ruderern. Die höchste unter Riemen erreichte Geschwindigkeit liegt bei sechs Knoten. 

Wichtigstes Ergebnis bei den Segeleigenschaften ist die Tatsache, dass am Wind noch sinnvoll gesegelt werden kann. Aus den Messwerten konnte ein Polardiagramm berechnet werden, welches die Segeleigenschaften des Schiffes beschreibt. Anders als zunächst erwartet, ist der Vortrieb unter Segel über ein weiten Winkelbereich konstant. Bereits bei mittlerem Wind driftet das Schiff stark ab. Daneben konnte gezeigt werden, dass das Schiff auch mit beschädigter oder entfernter Ruderanlage noch manövrierfähig ist, ein Verlust eines Steuerruders also nicht automatisch zum Verlust des Schiffes führt, zumal es sich ja auch um eine Doppelruderanlage handelt. Die Ergebnisse belegen, dass Schiffe vom Typ Oberstimm 1 robuste, leicht zu handhabende und verlässliche Transportmittel waren. Neue Mannschaften aus bisher nautisch unerfahrenen Einheiten konnten schnell auf Schiffen dieses Typs eingewiesen werden. 

Aus Oberstimm 1 wird das Römerschiff Victoria

Nach Abschluss der wissenschaftlichen Untersuchungen wurde das Schiff am 30. Mai 2008 in einer feierlichen Zeremonie in Hamburg auf den Namen Victoria getauft. Seitdem befindet sich die Victoria in Obhut der I. Roemercohorte Opladen e.V., die die Stammmanschaft für deutschlandweite Fahrten mit dem antiken Römerschiff stellt. Nach der großen und publikumswirksamen Lippe-Tour anlässlich des zweitausendsten Jubiläums der Varusschlacht war die Victoria beispielsweise auch Gast beim Hamburger Hafengeburtstag 2011, der Kinderuni Trier oder auch in Frankfurt am Main. Damit erfüllt die Victoria nach ihrer wissenschaftlichen Nutzung vor allem die Aufgabe, römische Geschichte hautnah einem breiten Publikum näher zu bringen. 

Pressespiegel

Knöllchen für das Römerschiff

„Sechs Frauen und zehn Männer haben die Victoria, den originalgetreuen Nachbau einer römischen Galeere, einem Praxistest auf d em Rhein bei Bonn unterzogen.“

Link zum Artikel der Frankfurter Rundschau

Römisches Kriegsschiff wird nachgebaut

„Facharbeiter bilden in Hamburg ein historisches römisches Kriegsschiff nach. Ende März wird das 16 Meter lange Boot erstmals im Harburger Binnenhafen zu Wasser gelassen – danach soll das Schiff auf Werbetour gehen.“

Link zum Artikel bei Welt Online

Was macht das Römerschiff auf der Alster?

„Ein originalgetreues Römerschiff ist am Freitag auf der Außenalster auf den Namen „Victoria“ getauft worden.“

Link zum Artikel beim Hamburger Abendblatt

Von der Weser ins Fernsehen: „Victoria“ in ZDF Dokumentation

„Ende September haben viele Bückeburger das Römerschiff „Victoria“ auf der Weser an der Mindener Schlagde bestaunt. Bald könnte es ein Wiedersehen geben: Für einen Filmdreh der ZDF-Reihe „Schliemanns Erben“ hat die Victoria noch einmal das Winterquartier in Hamburg-Harburg verlassen.“

Link zum Artikel bei Neue Deister-Zeitung